Zum Verständnis von Neuer und traditioneller Musik

Einem sehr weitverbreiteten Klischee zufolge ist Neue Musik etwas, das nur einer kleinen Minderheit von Fachleuten und Intellektuellen zugänglich ist, sich dem Normalbürger aber doch weitgehend verschließt. Dies halte ich für einen großen Irrtum, was ich später begründen möchte.

Wenn man sich das öffentliche Musikleben einmal näher ansieht, so muss man feststellen, dass es weitgehend zu einem Museumsbetrieb erstarrt ist, zu einer gigantischen Wiederaufbereitungsanlage des Immergleichen. Seien es die Konzertprogramme, Radio- und Fernsehprogramme, seien es Schallplatten/CDs, seien es Lehrpläne an Schulen oder das im Instrumentalunterricht an Musikschulen oder sogar an Musikhochschulen Behandelte: aus der über eintausendjährigen abendländischen Musikgeschichte ist nur ein kleiner Ausschnitt von vielleicht einem Fünftel oder Viertel präsent, also die Musik so ab Mitte des 17. Jahrhunderts bis hin zum Ende des 19. Jahrhunderts.
Die Musik davor oder auch danach wird vom Musikbetrieb und dadurch auch vom öffentlichen Bewusstsein weitgehend ignoriert, nimmt man einmal das aus, was landläufig als "moderne" Musik gilt, nämlich die Popularmusik.

Eine derartige Rückwärtsorientiertheit ist dabei ein relativ junges historisches Phänomen, das sich so richtig erst im 20. Jahrhundert entfaltete. Zur Zeit Beethovens etwa war das Vergangene kaum interessant: aufgeführt wurden jeweils die neuen, aktuellen Werke. Bach beispielsweise war in dieser Zeit ein weitgehend unbekannter Komponist, der einer vergangenen Epoche angehörte. Erst ab Mendelssohns Aufführung von Bachs Matthäuspassion entstand so etwas wie ein historisches Interesse.

Diese Auseinandersetzung mit dem Neuen, Aktuellen ist dem Musikbetrieb völlig abhanden gekommen. Die Konzertbesucher gehen in der Regel nicht ins Konzert, um Neues zu hören, ihren Horizont zu erweitern oder um sich mit etwas auseinanderzusetzen. Sie wollen vielmehr Vertrautes wiedererkennen, das damit zum kulinarischen Konsumobjekt heruntergekommen ist. Man "genießt" diese Musik, man schwelgt im Allzubekannten. Die historische Dimension geht dabei verloren: dass das Gehörte auch einmal neu und aktuell war, auch provoziert hat wie manche Werke Beethovens (der ja bekanntlich gegen das "Genießen" seiner Musik äußerst allergisch war). Oder man denke an die Erschütterungen, die von Monteverdis Madrigal "Cruda Amarilis" ausgingen!

Die "klassische" Musik prägt durch ihre ständige Omnipräsenz die Normen des Hörens. Was sich diesen Mustern - seien es melodische, harmonische, rhythmische oder formale Merkmale - nicht fügt, ist "keine Musik mehr" und wird abgelehnt, ja angefeindet. Die aufs Wiedererkennen konditionierten Hörer sind schockiert, wenn ihnen eben dieses Wiedererkennen versagt wird.

Und dies ist der eigentliche Grund des angeblichen Nicht-Verstehens zeitgenössischer Musik! Das vermeintliche nicht-verstehen-Können bezeugt in erster Linie die Weigerung, sich auf das Neue und Unbekannte, sich auf das Fremde einzulassen; die Weigerung, den Horizont zu erweitern und aus den eingeschliffenen Klischees auszubrechen. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Fachleute diese Neue Musik notwendigerweise besser verstehen als Nichtfachleute.

Vielmehr war es geradezu eine Grundintention der Komponisten der fünfziger Jahre, neue und fremde Klangwelten zu schaffen. Stockhausen forderte ein Komponieren unter völligem Verzicht auf die Vorstellungskraft, denn sonst, so sein Argument, würde doch nur das bisher Gehörte wieder dabei herauskommen. Ein Komponist müsse im Gegenteil abstrakte Strukturen quasi am Reißbrett entwerfen, ohne sich diese Musik vorstellen zu können, um dann beim Hören seiner eigenen Musik mit etwas völlig Fremdem konfrontiert zu werden.

Das war freilich eine grundlegende Wandlung im Selbstverständnis der Komponisten: nicht länger verstanden sie sich als das klassisch-romantische Genie, das als eine Art Gott im Werk eine Welt nach seinem Willen schuf. Nicht länger also ging das Werk auf in den Intentionen seines Schöpfers, nicht länger ließ es sich daraus ableiten. Das heißt: die Komponisten standen ihrem eigenen Werk nicht unbedingt näher als andere Zuhörer: wie diese, so mussten auch sie erst noch in Beziehung zu ihrem Werk treten, das ihnen vielleicht genauso fremd und neu, genauso "unerhört" war wie anderen Hörern.

Der immense strukturalistische Aufwand der seriellen Kompositionstechnik hatte ursprünglich gerade dies im Sinn. Stockhausens Begriff der Momentform zielte aufs Unabsehbare: im Gegensatz zur dramaturgischen Formkonzeption der klassisch-romantischen Epoche, bei der ein bestimmter musikalischer Moment seinen Sinn nur durch den entwicklungsdramatischen Kontext erhält, also ohne das Vorher und Nachher gar nicht verstanden werden kann, werden nun die einzelnen Momente autonom. Jeder Moment repräsentiert das ganze Werk, ist Sinnträger in sich. Als Konsequenz daraus räumte Stockhausen den Hörern die Freiheit ein, beliebige Ausschnitte aus dem Werk hören zu können, ohne das ganze Werk hören zu müssen. Bei dieser Musik kann in keinem Augenblick das Kommende vorhergesehen werden: es muss mit allem gerechnet werden; einem Minimum an Intensität kann unvermittelt ein Maximum folgen und umgekehrt.

Dass die serielle Kompositionstechnik freilich noch eine metaphysische Dimension erhalten sollte, ist eine andere Sache: das serielle System quasi als platonische Idee, die hinter der sinnlich wahrnehmbaren Gestalt des Werkes dessen Einheit stiftet, wenn auch unnachvollziehbar für die Hörer.

Doch abgesehen davon ist die Kompositionstechnik hier vor allem Mittel zum Zweck und deshalb für das Hören nicht unbedingt relevant. Die Formgebung und damit auch das Verstehen des Werks solle nun, so forderte Stockhausen, von den Hörern in einem aktive Prozeß des Hörens selbst vollzogen werden, im Gegensatz zur klassisch-romantischen Musik: hier nötigt der psycho-dramatische Ablauf die Hörer in eine passive Rolle. Nun sollen sie Freiheiten erhalten wie etwa die Betrachter eines abstrakten Gemäldes: auf diesem gibt es keine eindeutige Aussage; es ist vielmehr ein vielschichtiges Gebilde, dessen einzelne Teile von den Betrachtern auf völlig verschiedene Weise miteinander in Beziehung gebracht werden können. Ähnliches solle für die neue Musik gelten.

Verstehen eines derartigen Werks kann also nicht bedeuten, es auf eine Eindeutigkeit zu reduzieren, und sei es auf die der Kompositionstechnik. Das Analysieren eines Werks ist nicht notwendige Voraussetzung für dessen Verständnis, und es ist fraglich, inwiefern es diesem überhaupt dient. Für einen Komponisten kann es natürlich interessant sein zu wissen, mit welchen Techniken ein bestimmtes akustisches Resultat erreicht wird. Aber gerade dieses Ziel sollte nicht aus den Augen verloren werden, soll die Analyse nicht zur Buchhaltungsanalyse verkommen, vor der Boulez gewarnt hat. Das sture Nachrechnen des kompositorischen Prozesses etwa vom seriellen System her -Ligeti freute sich einmal darüber, Boulez einen Fehler in seiner Komposition "Structures" nachweisen zu können - macht das Gehörte nicht transparenter, sondern stellt lediglich eine Tautologie dar.

Und in einer Hinsicht ist die Analye für das Werk geradezu gefährlich: nämlich dort, wo sie im Musikwissenschaftsbetrieb dazu dient, das Werk verwaltbar und einordenbar zu machen und ihm dadurch gerade seine Undomestizierbarkeit, seine Brisanz, sein Fremdes nimmt. Wenn man gesehen hat, dass, nach urdeutscher Tradition, alles seine Richtigkeit und Ordnung hat, ist die Sache abgehakt. Was man so einmal "verstanden" hat, stellt einen kaum mehr vor die Notwendigkeit einer erneuten Auseinandersetzung. Das besagt auch Adornos Satz: "Wahr sind einzig die Gedanken, die sich selbst nicht verstehen".

Aus diesem Grunde halte ich Einführungen zu Konzerten Neuer Musik, wie ich sie selbst auch schon vielfach gegeben habe, in gewisser Weise für nicht ganz unproblematisch. Den Hörern soll erklärt werden, was sie nun hören werden. Dadurch wird der Begegnung mit dem Werk freilich auch etwas Wesentliches genommen: eben die unerwartete Konfrontation mit etwas völlig Neuem, Fremdem.

Für ebenso bedenklich für die Neue Musik halte ich die oft geäußerte Meinung, an diese Musik müsse man die Hörer eben erst noch gewöhnen, und das solle aus pädagogischen Gründen doch vielleicht durch Musik geschehen, die noch nicht ganz so extrem sei, also durch gemäßigt moderne Musik. Nichts jedoch ist für ein Werk so tödlich wie die Gewöhnung daran!

Lebendig wäre diese Musik nur dann, wenn man sie als geschichtliches Moment begriffe: als etwas, das in einer ganz bestimmten historischen Situation entstanden ist. Das würde auch erfordern, das damals Neue und Provozierende in dieser Musik zu hören, was freilich voraussetzen würde, diese Musik vor dem damaligen Erfahrungshorizont zu hören. Deshalb halte ich das Verstehen von "klassischer" Musik eigentlich für nicht unbedingt einfacher als das Verstehen von Neuer Musik, und deshalb könnte man das eingangs erwähnte Klischee sogar umkehren: "Klassische" Musik ist eher denjenigen voll verständlich, die um die historischen Bedingungen dieser Musik wissen, und das sind eben vor allem die Fachleute.

Mein Verstehensbegriff wäre ein umfassender. Verstehen kann, wie schon angedeutet, nicht bedeuten, eine eindeutige Wahrheit in einem einmaligen Erkenntnisakt einzusehen, so wie man etwa einen mathematischen Beweis einsehen kann. Verstehen von Musik ist sehr vielschichtig.

Zunächst und zuallererst bedeutet das Verstehen von Musik die Bereitschaft, sich auf das jeweiige Werk einzulassen, sich ihm auszusetzen. Diese hängt nicht nur von der musikalischen Vorbildung ab. Manchmal sogar im Gegenteil: in meiner Arbeit mit Schülern und in meiner Konzerttätigkeit habe ich die Erfahrung gemacht, dass Personen, die selbst musizieren oder aus einer Familie stammen, in der Hausmusik praktiziert wird, manchmal gerade deshalb Schwierigkeiten beim Hören Neuer Musik haben können und sich diesen Errfahrungen verschließen. Durch ihre Beschäftigung mit meist nur einer bestimmten Art von Musik werden Ihnen unter Umständen eher bestimmte Schemata als alleingültige ins Bewusstsein eingeprägt, die dann eine unvoreingenommene Öffnung gegenüber dem Neuen und Anderen erschweren können.

Sodann bedeutet Verstehen einen Prozeß der Auseinandersetzung. Es ist nicht damit getan, das Werk einmal zu hören. Vielmehr muss man es sehr oft und sehr bewusst hören, um vielleicht immer wieder neue Details und Zusammenhänge wahrnehmen zu können.

Und nicht zuletzt bedeutet Verstehen von Musik, das jeweilige Werk in Bezug zu anderen Werken zu bringen, sei es zu Werken seiner unmittelbaren historischen Umgebung, sei es auch in der Form historischer Längsverbindungen (indem man beispielsweise ein Werk Stockhausens in Bezug bringt zu Werken Bachs). Sehr wichtig für das Verstehen von Musik ist das Begreifen ihrer historischen Dimension.

Vergleicht man einmal die Situation der zeitgenössischen Musik mit der der bildenden Kunst, so muss man einen gewaltigen Unterschied feststellen. Für die Besuche einer Ausstellung ist es eher selbstverständlich, mit aktuellen Werken konfrontiert zu werden. Und dass es sich dabei häufig um abstrakte Werke handelt, sorgt nicht einmal mehr in Kleinstädten für Aufregung. Hier wird dem Betrachter vielmehr klar, dass er das Resultat eines schöpferischen, experimentellen Prozesses vor Augen hat.

Diese Diskrepanz zwischen musikalischem und bildnerischem Bewusstsein habe ich kürzlich sehr krass erfahren, als eine Gruppe von Musikern des elektronischen Studios einer Musikhochschule eine multimediale Aufführung machte. Die Aktionen der Musiker lösten auf Bildschirmen sehr interssante grafische Prozesse aus. Das, was jedoch als Musik dazu erklang, war Welten davon entfernt: ein Potpourri von Klischees aus der Rock- und Jazzwelt. Und das Erstaunliche war, dass sich die Musiker des krassen Niveauunterschieds zwischen der dargestellten Grafik und der dargebotenen Musik nicht bewusst zu sein schienen.

Das Hauptproblem der zeitgenössischen Musik, so meine These, liegt nicht in einer wie auch immer gearteten angeblichen schwierigen Verständlichkeit dieser Musik, sondern in ihrer fast zu ignorierenden Präsenz in der Öffentlichkeit. Unzugänglich ist diese Musik nicht von ihrer Struktur her, sondern deshalb, weil es oft unmöglich ist, Aufnahmen oder Partituren eines bestimmten Werks zu erhalten, ganz abgesehen davon, dass die wichtigsten zeitgenössischen Komponisten und Werke einer breiteren Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind. Es wäre deshalb dringend nötig, dieser Musik einen breiteren Raum zu verschaffen. Wieso können Rundfunkanstalten nicht täglich mindestens eine Stunde zeitgenössische Musik senden? Auch müssten die Lehrpläne an Schulen gründlich umgearbeitet werden. Zeitgenössische Musik darf nicht länger etwas sein, das man bestenfalls am Rande noch erwähnt; sie müsste eine zentrale Position erhalten. Es ist ein Skandal, wenn Abiturienten mit Leistungskurs Musik die Schule verlassen und aus dem 20. Jahrhundert gerade mal Bartoks 3. Klavierkonzert mitbekommen haben!

Sodann kommt Konzertveranstaltern eine sehr wichtige Rolle zu. An die Stelle des ewiggleichen Arguments, diese Musik wolle ja sowieso niemand hören, könnte der Mut zum Risiko treten, selbst wenn dies nicht gleich Erfolge zeitigen sollte. Schließlich gab es auch zu Beethovens Zeit Konzerte, bei denen während der Aufführung bis zu neuzig Prozent der Zuhörer den Saal verließen!

Es geht nicht draum, die Zuhörer an die Neue Musik zu gewöhnen,sondern darum, die Begegnung mit dem Neuen und Ungewohnten selbstverständlich zu machen. Es wäre darauf hinzuwirken, dass Konzerte nicht mehr nur deshalb besucht werden, um Bekanntes wiederzuerkennen, sondern auch darum, um Neues zu erfahren und den Horizont zu erweitern. Es gilt, die Neugier und Abenteuerlust der Konzertbesucher zu wecken und herauszufordern.

Wie nun kann sich die Begegnung mit Neuer Musik auf das Verhältnis zu "klassischer" Musik auswirken? Wohl vor allem dadurch, dass ein historisches Bewusstsein entsteht und "klassische" Musik nicht länger als "eigentliche" Musik gehört wird. Als ich neulich mit einem Freund, der Neue Musik so gut wie nie gehört hat, ein Konzert mit elektronischen Werken von Iannis Xenakis besucht hatte, äußerte sich dieser nach dem Konzert spontan, dass durch dieses Erlebnis sämtliche frühere Musik für ihn eine gewaltige Zeitdimension erhalten würde, und wir überlegten uns, wie es wohl wäre, wenn man unmittelbar im Anschluss an diese elektronische Musik etwa ein Streichquartett Haydns hören würde.

Durch diese historische Dimension wird man sich der Tatsache bewusst, dass jede Musik einmal neu war, und man versteht Musik als historischen Prozeß.

Vor allem kann die Neue Musik auch zu einem anderen Hören führen und zu einer anderen Art, Musik zu begegnen. Nicht länger muss das behagliche Genießen die Intention des Hörens sein. Neue Musik kann bewirken, dass man wacher, bewusster, aktiver hört und das Hören als Erweiterung des Horizonts erlebt. Und so kann man auch die "klasische" Musik eher als schöpferischen Prozess erleben denn als toten Gegenstand im verstaubten Museum.


© Rainer Bürck 1992